Ahmet Alibašić ist Professor an der Fakultät für Islamwissenschaften in Sarajevo, Bosnien und Herzegowina. Er gilt als einer der führenden Analytiker für den Nahen Osten und ist Vorsitzender des Zentrums für fortschrittliche Studien mit Sitz in Sarajevo. Im Gespräch mit dem bosnischen Nachrichtenmagazin Faktor erklärt Alibašić die neue Strategie der Terrorgruppe ISIS und das von Doppelmoral geprägte Verhältnis zu Opfern terroristischer Gewalt.
FAKTOR: In den vergangenen 40 Tagen waren wir Zeugen terroristischer Anschläge in Paris, Beirut und Ankara, bei denen fast 300 Menschen ihr Leben verloren haben, die Zahl der Verletzten ist drei Mal höher. Als verantwortlich dafür wird die Terrorgruppe ISIS angesehen, die vornehmlich auf dem Gebiet des Irak und Syrien tätig ist. Kündigen diese Angriffe eine neue Taktik dieser Gruppierung an?
ALIBAŠIĆ: Es scheint so, zumal die Anschläge keine „strategischen“ Ziele zum Gegenstand hatten, die üblicherweise von Sicherheitsbehörden als besonders gefährdet angesehen werden und infolge dessen einem größeren Schutz unterstellt sind, wie z.B. staatliche Einrichtungen, Medienhäuser oder religiöse Objekte. Nunmehr werden beliebige Ziele angegriffen. Ziel und Zweck dieses Vorgehens ist es allgemeine Verunsicherung, Angst und totales Chaos hervorzurufen. Nunmehr kann praktisch alles zur Zielscheibe werden. Zum einen ist dies natürlich ein besorgniserregender Zustand. Zum anderen kann dies auch Beleg dafür sein, dass sich diese Gruppe in einer ausweglosen und hoffnungslosen Situation befindet und ihrem Niedergang entgegensieht.
Diese Taktik lässt für die zivilisierte Welt nur eine Option zu, nämlich die vollständige Vernichtung. Auch unter terroristischen Gruppierungen gibt es Abstufungen. Einige terroristische Gruppierungen wollen Verhandlungen erzwingen bzw. lassen Raum für Verhandlungen. Nicht wenige Male kam es vor, dass Gewalttaten nach solchen Verhandlungen gestoppt wurden. Es gibt hierzu viele Beispiele, angefangen mit der IRA bis hin zur Džema’a islamijje in Ägypten oder den Taliban in Afghanistan. Andererseits gibt es Gruppierungen, die keine Möglichkeiten für politische Lösungen offen lassen. In der muslimischen Geschichte gab es die Gruppierung der Haridschis, mit denen Kalif Ali in der Schlacht bei Nehrevan abgerechnet hat.
Es könnte sich daher bei dieser Brutalität die an den Tag gelegt wird um die Ankündigung des Niedergangs dieser Gruppe handeln. Hervorgerufen durch die drastische Reduzierung der gesellschaftlichen Basis, auf die diese Gruppe bei ihren zukünftigen Aktionen zählt.
FAKTOR: ISIS trat überraschend in Erscheinung. Gegenwärtig stellt diese Gruppierung jedoch eine respektable militärische Macht in Syrien und im Irak dar. Welche Schätzungen gibt es über die zahlenmäßige und technische Ausrüstung dieser Gruppierung?
ALIBAŠIĆ: ISIS ist praktisch gesehen eine Metastase von Al-Kaida. Diese Metastase wurde ausgelöst – oder wenn sie so wollen provoziert – durch die Folge der Ereignisse auf dem genannten Gebiet. Vor allen denke ich hier an die katastrophale Besatzungspolitik sowie die anschließende Verwaltung des Irak, die dazu geführt haben, dass der Irak zerstört und in verschiedener Art und Weise aufgeteilt wird. Der Tropfen der das Fass zum Überlaufen brachte war das fehlende Verständnis und Empfinden für die Belange der Sunniten im Irak. ISIS verstand es, diese Unzufriedenheit gekonnt auszunutzen, und sich der Territorien, finanziellen Mittel und Waffen zu bemächtigen. Wie einst die Taliban in Afghanistan. Der zweite Faktor, der ISIS in die Hände spielte war die Entwicklung der Krise in Syrien. Anfangs dominierten innerhalb der syrischen Opposition demokratische Kräfte. Die Westmächte hegten gegenüber Islamisten Vorurteile und waren auch aus geostrategischen Interessen nicht bereit, diese Kräfte zu unterstützen. Trotz der enormen Brutalität des Assad-Regimes. In Teilen der dortigen Öffentlichkeit konnte sich ISIS so erneut als eine hinnehmbare Option aufzwingen.
Der Militärputsch in Ägypten sowie die Reaktion der liberalen Demokratien auf dieses Ereignis stärkten letztendlich die Argumentation der militanten Kräfte, wonach die Weltöffentlichkeit es niemals zulassen wird, dass Muslime selbst und frei über sich und ihr Schicksal entscheiden dürfen. Natürlich konnte ISIS nur den Hoffnungslosen als „Lösung“ erscheinen. Bereits viel früher, seit Ende der 60-er Jahre des 20. Jahrhunderts, entwickelte sich eine Ideologie fort, die derartige Gräueltaten rechtfertigt. So wurden die Voraussetzungen für ein schnelles Erstarken von ISIS geschaffen.
An dieser Stelle möchte ich auch die Unhaltbarkeit der Politik der liberalen demokratischen Staaten gegenüber der arabischen Welt unterstreichen. Diese Staaten wollen keine Extremisten. Völlig verständlich und gerechtfertigt. Aus moralischen Gründen können sie öffentlich keine Diktaturen unterstützen. Gegenüber islamischen demokratischen Kräften hegen sie Misstrauen. Das Problem ist, dass wir gegenwärtig keine vierte Option auf diesen Gebieten haben und aller Voraussicht nach in naher Zukunft auch nicht haben werden. Im Kampf der entschlossenen Diktatoren und Extremisten mit den unentschlossenen liberalen Demokratien, gehen die Erstgenannten offensichtlich als Sieger hervor.
Eine Einschätzung über die zahlenmäßige und technische Ausrüstung der ISIS ist schwierig, da unbekannt ist wie viel ihrer Kräfte sie bei den Luftschlägen eingebüßt haben und wie viele Menschen, Kinder einbezogen, sie auf den Territorien, die sie kontrollieren, mobilisieren konnten. Es wurde zeitweise auch von 40.000 Bewaffneten gesprochen.
FAKTOR: Wie sehr schadet es den Muslimen selbst, dass sich ISIS unter der Bezeichnung „Islamischer Staat“ versteckt. Vor allem den Muslimen, die in europäischen Ländern leben, von denen es nach manchen Schätzungen 15 Millionen gibt.
ALIBAŠIĆ: Der Schaden ist enorm, denn es fällt sogar manchen Muslimen schwer, geschweige denn Nichtmuslimen, in dieser hitzigen Atmosphäre eine klare Unterscheidung vorzunehmen. Zwischen Terroristen, die ihre Übeltaten mit einer angeblich Islamischen Lehre rechtfertigen, und anderen Muslimen. Für Verwirrung darf es jedoch aus vielerlei Gründen keinen Raum geben. Weder für Muslime noch für Nichtmuslime.
Erstens, die muslimische Geschichte kennt viele Erscheinungen des Glaubens-Missbrauchs. Die erste und bekannteste Erscheinung waren die Haridschis, die am Ende den vierten Kalifen Ali töteten. Als sie in Erscheinung traten – ihre „Gläubigkeit“ durch Äußerlichkeiten manifestierend – und begannen Gräueltaten zu begehen, waren viele verwirrt. Erst einer der größten islamischen Gelehrten der ersten Generation der Muslime, Ibn Abbas, konnte die Mehrheit davon überzeugen, dass solch ein Vorgehen keinen rechtschaffenen Weg darstellt. Leider vermochte er es nicht die radikalsten Teile dieser Gruppierung zur Vernunft zu bringen. Sie mussten erst gewaltsam durch den Kalifen Ali in der Schlacht bei Nehrevan geschlagen werden.
Zweitens, die Mehrzahl der Opfer terroristischer Handlungen sind und waren Muslime. Im Jahr 2013 waren 85 % von 16.500 Opfern terroristischer Handlungen Muslime, die in sechs muslimischen Ländern zu Tode kamen. Im Vergleich dazu sind heute keine wesentlichen Änderungen erkennbar.
Schließlich ist es überhaupt nicht notwendig darüber zu diskutieren, ob manche Terroristen Muslime sind oder nicht. Sicher ist, sie verstoßen gegen deutliche Gebote über den Schutz unschuldigen menschlichen Lebens. Sie verstoßen gegen völkerrechtliche Verträge, durch die auch Muslime verpflichtet werden usw. Für all diese Einzeltäter und Gruppierungen sieht auch das islamische Rechtswesen sehr strenge Sanktionen vor. Es ist daher überhaupt nicht relevant, ob es sich bei ihnen um Gläubige handelt oder nicht oder wie gläubig sie sind. Aus theologischer Sicht sind diese Dinge klar. Politisch ist es jedoch immer sehr schwierig, vor allem in emotionsgeladenen Situationen, die nach schrecklichen Anschlägen und Gräueltaten entstehen, zu differenzieren.
FAKTOR: Wie sehr sind Terrorgruppen wie die ISIS an einzelne Staaten angelehnt, v.a. im Nahen Osten. Fortlaufend wird darüber gesprochen, dass mächtige Staaten der Region militärische Formationen auf den Gebieten von Syrien und Irak unterstützen. Wer unterstützt wen?
ALIBAŠIĆ: Diese Unterstützung ist Gegenstand vieler Spekulationen, Verschwörungstheorien und Gegenbehauptungen. Da es keine verlässlichen Beweise und Tatsachen gibt, möchte ich mich auf diese Spekulationen nicht weiter einlassen. Die Antworten darauf erfahren wir höchstwahrscheinlich erst dann, wenn das alles nicht mehr wichtig ist. Man darf jedoch nicht die nichtstaatlichen Akteure und Helfer, von den Einzelpersonen bis zu formellen und nichtformellen Gruppierungen, aus dem Blickwinkel verlieren.
FAKTOR: Nach dem Anschlag von Paris titeln Medien in aller Welt: „Krieg in Europa“ oder „Europa begibt sich in den Krieg gegen den Terror“. Ähnliche Titel wurden auch nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo vernommen. Ein Friedensmarsch wurde sogar abgehalten, konkrete Aktionen blieben jedoch aus. Ist es an der Zeit, dass Europa, aber auch der Rest der Welt, mit dem Terrorismus abrechnet, und wie kann das geschehen?
ALIBAŠIĆ: Natürlich ist es an der Zeit. Die Frage ist jedoch, ob eine Welt ohne Terrorismus möglich ist. Viele sagen, dass dies nicht möglich ist, wenn wir die Werte der Freiheit und Rechte, die wir als wichtig erachten, und die Sicherheit nicht opfern möchten. Mit anderen Worten, eine absolute Sicherheit ist nicht möglich. Das heißt aber nicht, dass man nicht versuchen sollte, die Bedrohungslage auf ein Minimum zu reduzieren. Als Analogie kann man die Sicherheit im Straßenverkehr heranziehen. Jährlich kommen bei uns ca. 300 Menschen im Straßenverkehr zu Tode. Uns ist bekannt, wie man diese Zahl auf ein Minimum reduzieren könnte, z.B. durch bessere Straßen oder Fahrzeuge, die nicht schneller als 60 km/h fahren können, durch den Führerscheinentzug bei gewissen Personenkategorien. Nichtsdestotrotz, tatsächlich machen wir nichts davon. Wir haben uns mit einem verlorenen Menschenleben pro Tag abgefunden. Ich bin mir sicher, dass Versicherungsunternehmen auf dieser Basis arbeiten und ihre Kalkulationen erstellen. Das ist schrecklich, es ist aber so.
Es gibt jedoch eine Vorgehensweise, ohne diese die Zahl der Opfer terroristischer Übergriffe weiterhin untragbar hoch bleiben wird. Es handelt sich hier um die Beseitigung der Ursachen für Terrorismus. Ursachen dafür sind vor allem politische Krisensituationen (Aggressionen, Besatzungspolitik, Ausschluss ganzer Gruppen usw.) sowie nichtfunktionelle Staaten und Staatswesen. Erst danach folgen Ideologien, persönliche Probleme Einzelner und ähnliches. Leider toleriert die Weltöffentlichkeit bzw. die Weltmächte unzulässig und untragbar lange solche Krisensituationen oder trägt zu ihrer Entstehung und Komplizierung bei (Syrien, Irak, Palästina usw.). In den Jahren als man dachte, dass die Welle der Demokratisierung auch grundlegende Neuerungen zum Guten in der arabischen Welt mit sich bringen wird, sank die Zahl terroristischer Angriffe drastisch. Terroristen waren fast verstummt. Durch die Ereignisse, die sich danach vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielten, wurden sie nicht dementiert. Sie wurden dadurch auch nicht geschwächt in ihrem Glauben, dass die Welt es niemals zulassen wird, dass die muslimischen Gesellschaften selbst über ihre Geschicke bestimmen und den Weg des Fortschritts einschlagen. Leider gewann der Extremismus erneut an Stärke dadurch, dass die Prozesse der Veränderungen jäh zum Stillstand kamen. Solange wir diese einfache Tatsache nicht verinnerlichen und akzeptieren werden wir dazu verdammt sein, immer gegen die Folgen terroristischer Handlungen zu kämpfen. Die Terroristen werden uns dabei weiterhin immer einen Schritt voraus sein.
FAKTOR: Wie scheinheilig ist die Weltöffentlichkeit bei der Trauer um die Opfer der schrecklichen terroristischen Anschläge. Zwei Beispiele dazu: der Anschlag in Beirut mit 43 getöteten Menschen war nur eine Randnotiz, geachtet der Tatsache, dass die Weltöffentlichkeit nur dem schrecklichen Anschlag von Paris Aufmerksamkeit schenkte. Haben die Opfer terroristischer Handlungen den gleichen Rang und Wert?
ALIBAŠIĆ: Das ist ein ewiges Thema, die Ungerechtigkeit der Weltordnung. Das Problem ist leider nicht nur die Tatsache, dass die Weltöffentlichkeit die Opfer nicht gleichbehandelt, sondern vielmehr auch, dass wir uns damit abgefunden haben und dies fast schon gar nicht mehr bemerken. Unlängst kamen in Ankara fast 100 Menschen ums Leben. Die Reaktion war nicht im Ansatz mit der nach Paris zu vergleichen. Auch Rassismus ist hier ein Thema, aber auch die Frage politischer Macht. Wer die Macht hat, seine Trauer überzeugend zu demonstrieren, sie medial zu platzieren, die eigenen und Ressourcen sowie die der Verbündeten zu mobilisieren, dessen Opfer und Leiden wird herausgehoben. Die Armen und Schwachen dagegen sterben in medialer Dunkelheit in aller Stille.
Nichtsdestotrotz, solange wir auf diese strukturelle Ungerechtigkeit hinweisen, die fester Bestandteil der Grundfesten unserer Weltordnung ist, möchte ich hier keine hohe moralische Stellung einnehmen und anderen Lektionen erteilen. Ich war selbst oft genug Zeuge davon, dass auch wir in Bosnien und Herzegowina, obwohl wir die schrecklichen Ereignisse des Völkermordes und Genozids durchlebt haben, nicht immer die erwartete Empathie aufbringen können und wollen für Opfer anderer Auseinandersetzungen. Auch ist es einfach den sicherlich unmoralischen Waffenhandel zu verurteilen. Zumal bekannt ist, dass diese Waffen von Besatzungsmächten und Diktatoren genutzt werden. Leider vergessen viele, oder verdrängen es, dass auch das ehemalige Jugoslawien sowohl mit dem Irak als auch mit dem Iran Waffenhandel betrieben hat. Obwohl man wusste, dass diese Waffen in einer Auseinandersetzung eingesetzt werden, in der Normen der Kriegsführung nicht beachtet werden. Soweit ich mich erinnern kann, hatten wir hier keine moralischen Bedenken. Im Gegenteil, wir sahen uns als fähige Händler und Unterhändler an, die zeitgleich mit beiden Kriegsparteien im Gespräch sind. Es ist leicht, anderen Moralpredigten zu halten. Schwierig ist es, selbst moralisch zu handeln.
(Übersetzung des Interviews aus dem Bosnischen ins Deutsche: E.A.)
Interview_Profesor_Ahmet_Alibasic.pdf