Alija Izetbegović, ein europäischer Muslim zwischen Ost und West – Ein Portrait

Alija Izetbegović, ein europäischer Muslim zwischen Ost und West – Ein Portrait

admin
03.11.2017

Am 8. August 1925 erblickte Alija Izetbegovic das Licht der Welt.: Muslim, Europäer, streitbarer Mahner Europas und der islamischen Welt und der erste Präsident des freien und unabhängigen Bosnien und Herzegowinas – zu seinem Geburtstag ein aktualisiertes Portrait und zwei beeindruckende Reden, die aktueller nicht sein könnten und die zeigen, dass Europa mit seinem Tode auch einen Visionär und Welterklärer verloren hat. Auch Jahre nach seinem Tode scheint er sein Land aus dem Grab zur Einheit in Vielfalt zu mahnen und gleichsam die Welt, die nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vernichtung von jüdischem Leben erneut Zeuge der barbarischen Menschenvernichtung während des Bosnienkriegs geworden war. Seine letzte Rede an die Nation hielt er vom Krankenbett aus, wusste er um den fragilen Frieden, der das Töten auf dem Balken gestoppt hatte. Izetbegović wurde am 8. August 1925 in Bosanski  Samac in Nordbosnien. Seine Eltern benannten ihn nach seinem Großvater, der am Ende des 19. Jahrhunderts seinen Militärdienst in Üsküdar ableistete und eine Frau namens Sadika Hanım heiratete. Die beiden bekamen fünf Söhne, unter ihnen Mustafa, der Vater des ersten Präsidenten Bosnien und Herzegowinas. 1927 zog die Familie nach Sarajevo, wo Izetbegović anfing Jura zu studieren. Seine andere große Leidenschaft waren die Schriften der Philosophen Europas. Im Zweiten Weltkrieg trat Izetbegović den Jungen Muslimen (Mladi Muslimani) bei. Bereits nach der Gründung Jugoslawiens unter General Tito wurde Izetbegović 1946 zu drei Jahren Haft verurteilt. In Europa herrschte gerade der Kampf der Faschismen. Die Jugendorganisation der Jungmuslime, der Izetbegovć angehörte, musste sich entscheiden wen sie unterstützte: die kommunistischen Partisanen Titos oder das Regime der Ustascha, die mithilfe der Achsenmächte in den Gebieten Kroatiens und Bosniens ein totalitäres Regime errichteten und unliebsame politische Gegner in Konzentrationslager internierten. Bosnien war das Terrain eines Stellvertreterkrieges geworden. Das durch die Waffen-SS gesponserte Engagement der Jungmuslime diente unter Tito als Argument für Todesmärsche und Arbeitslager und auch im Bosnienkrieg gaben sich serbische Nationalisten unbefleckt und geschichtsunbewusst – auch für sie waren die Muslime Bosniens lediglich Faschisten, ein Übel, dass es zu beseitigen galt – man sprach von “ethnischer Säuberung” und ließ die Konzentrationslager wieder aufleben, errichtete neue Vernichtungslager – in Europa, nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem “nie wieder” geschworen wurde. Die Argumentationsstränge werden heute beinahe unverändert weitergeführt: Die sogenannte und selbst ernannte Islamkritik nimmt diese geschichtliche Begebenheit ebenfalls als Anlass zu äußern, dass der Islam, einem homogenen Subjekt gleich, dem Faschismus der Nationalsozialisten gleichzusetzen sei. Rechtsradikale bauen sich eine neue Welt, in der sie eigentlich nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun haben, sondern in ihrer Wahrheit Muslime als selbst auserspähte und auserkorene Faschisten jagen. Verkehrte Welt. Als hätte sich nicht beinahe ganz Europa schuldig gemacht. Die Meisten hatten zwischen Pest und Cholera gewählt, der Rest – ein Haufen mutiger Menschen, denen Izetbegović anfangs nicht angehörte – leistete Widerstand. Es war – Izetbegović nach – eine Zeit, in der ein “roter Totalitarismus erwuchs, um den schwarzen Totalitarismus zu konfrontieren” (Inescapable Questions, S. 13). Nach seiner Haftentlassung studierte Izetbegović ab 1954 Jura. Nach seinem Studium arbeitete er mehrere Jahre in der Baubranche, unter anderem in einer Baufirma in Mazedonien. Während dieser Zeit schrieb er unaufhörlich, verarbeitete seine Erlebnisse während des Krieges und klärte sein Verhältnis zu Europa. 1970 erschien die “Islamische Deklaration” („Islamska deklaracija“), die zuvor in bosnisch-muslimischen Kreisen zirkulierte. Sie kritisierte den Nationalismus und das kommunistische System. Der breiten Öffentlichkeit wurde die Deklaration erst im Jahre 1983 bekannt. Sie war das Hauptbeweismittel in einem Gerichtsprozess, der lediglich politisch motiviert war. Mit 13 anderen muslimischen Intellektuellen Bosniens wurde Izetbegović zu 14 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Man warf ihm vor, einen islamischen Staat innerhalb Jugoslawiens etablieren zu wollen. Der Deklaration selbst lassen sich allerdings keine direkten Bezüge zu Jugoslawien oder Bosnien entnehmen. In seiner Verteidigung wies Izetgebović auf diesen Umstand hin und betonte, dass sich die Deklaration mit all ihren Aussagen auf die islamische Welt insgesamt bezog. Sie scheint ein Aufruf an Muslime weltweit zu sein, sich adäquat mit dem eigenen Glauben zu beschäftigen. Was daraus folgt lässt die Deklaration offen. Izetgebović kritisiert den Verbund von politischen Dogmatikern und Theologen, die sich seiner Meinung nach, entgegen islamischer Prinzipien, in die Stellung eines islamischen Klerus begeben haben, politischen Ambitionen dienend. (Islamische Deklaration, Sarajevo 1990, S. 9). 1988, nach fünf Jahren Haft, wurde Izetbegović frühzeitig entlassen. 1990 gründete er die Partei der Demokratischen Aktion (SDA), die bei den im gleichen Jahr stattfindenden Wahlen stärkste Kraft wurde, sodass Izetbegović Präsident von Bosnien und Herzegowina wurde, welches zunächst noch ein Teil Rest-Jugoslawiens blieb. Slowenien und Kroatien hatten bereits die Unabhängigkeit erklärt und der Kommandant der jugoslawischen Volksarmee bereitete für die Unabhängigkeit Bosniens ebenfalls einen Krieg vor. Izetbegović entschloss sich schließlich den Weg der Unabhängigkeit zu gehen und – wie von der Europäischen Union gefordert – ein Referendum abzuhalten. 90 % der Wahlberechtigten in Bosnien und Herzegowina, vornehmlich Bosniaken und Kroaten, stimmten für die Unabhängigkeit. Die Serben boykottierten das Referendum. Während des folgenden Krieges von 1992-1995 versuchte Izetbegović weiterhin der Präsident aller Bosnier zu sein und so lange wie möglich der jugoslawischen Volksarmee, die im Grunde genommen serbisch war, Widerstand zu leisten. Kritisiert wird Izetgebović heute von untergebenen Offizieren, die ihm vorwerfen, nicht genug gegen den Zustrom von islamistischen Gotteskriegern unternommen zu haben. Besonders nach dem Waffenembargo, dass alle Parteien traf, insbesondere aber die bosnischen Muslime den Angreifern schutzlos auslieferte und der totalen Vernichtung preisgab, wandte sich Izetbegović offen an islamische Staaten und bat um Hilfe. Das Embargo hatte das Blutvergießen noch vermehrt, denn Kroatien und Serbien waren durch das Embargo nicht betroffen und konnten entsprechend die Kriegsparteien in Bosnien versorgen. Izetgebović musste sich an seine Jugend erinnert haben. Wieder stand die Wahl zwischen Pest und Cholera: die Zerstörung des von Pluralität geprägten Bosniens und die Vernichtung der bosnischen Muslime oder diese unheilige Allianz mit Männern, die tatsächlich glaubten, für die Sache Gottes zu kämpfen. Nach dem Krieg wurde Izetbegović 1996 in seinem Amt bestätigt und vertrat Bosnien nun im Präsidium Bosnien und Herzegowinas bis zu seinem durch gesundheitliche Probleme begründeten Ausscheiden aus der Politik im Jahr 2000. Im September 2003 erlitt Izetbegović bei einem Unfall in seinem Haus mehrere Rippenbrüche und innere Blutungen. Am 19. Oktober 2003 erlag er seinen Verletzungen in einem Krankenhaus in Sarajevo. Sein letztes Interview führte er per Telefon einen Tag vor seinem Tod mit dem Fernsehsender Hayat. In dem Interview mahnte der sterbende Präsident zur Einheit der Republik Bosnien und Herzegowina, gestand Serben, Kroaten und Bosniaken ihre Identitäten zu, forderte die Überwindung des Hasses und erinnerte alle Parteien daran, dass sie letztendlich Bosnier waren. Anlässlich seines Todestages, der sich am 19. Oktober zum 14. Mal jährte, lesen Sie nun eine aus dem Englischen übersetzte Rede, die Alija Izetbegović am 17. März 1995 in Bonn vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik hielt. Danach folgt eine Rede, die er knapp zwei Jahre später in Teheran gehalten hat. Die zweite Rede zeigt einen Izetbegović, der der islamischen Welt einen Spiegel vorhält und zur Wahrnehmung eigener Verantwortung aufruft, anstatt Hass gegenüber den westlichen Staaten zu predigen. Diese Reden sollen verdeutlichen, wer Alija Izetbegović war: Er repräsentierte in gewisser Weise den Osten und der Westen – ein europäischer Muslim, der sich die Verpflichtung auferlegt hatte Brücken zwischen Völkern zu bauen.   Erste Rede: Bonn, 17. März 1995 Meine Damen und Herren, liebe Freunde, mir wurde gesagt, dass diese Tage 40 Jahre voller fruchtbarer Aktivitäten Ihrer Organisation markieren. Ich möchte diese Gelegenheit dazu nutzen, um Ihnen zu Ihrem Jubiläum zu gratulieren und Ihnen viel Erfolg für die kommenden Jahre zu wünschen. Die Arbeit einer Organisation wie der Ihrigen kann eine große Hilfe für alle Menschen sein, die Entscheidungen treffen müssen. Wenn es um Bosnien geht, aus dem ich komme, dann kann ich zwei Dinge nennen, bei denen wir ihre Hilfe brauchen könnten und dringend benötigen. Erstens, es gibt einen Mangel an Ideen die Probleme in den Territorien des ehemaligen Jugoslawien zu lösen, im Speziellen in Bosnien und Herzegowina. Zweitens ist es notwendig, dass das Funktionieren wichtiger internationaler Institutionen unter die Lupe genommen werden muss: die UN, der Sicherheitsrat, die NATO und andere, weil alle Mechanismen der kollektiven Sicherheit im Balkan-Konflikt offensichtlich versagt haben. Internationale Faktoren haben zu falschem Handeln geführt. Sie können helfen, derartige Fehler in Zukunft zu minimieren. In wenigen Tagen ist es drei Jahre her, als die Aggressionen gegen Bosnien begannen. Es sind ebenso drei Jahre, in denen die Welt passiv bei einem ungleichen Kampf zwischen einem gut bewaffneten Angreifer und seinem Opfer zugesehen hat. Es gibt eine irrige Annahme, die ich sofort korrigieren möchte. Es wurde gesagt: Die internationale Staatengemeinschaft wollte (oder konnte) nicht in den Krieg in Bosnien und Herzegowina eingreifen. Dieses Statement entspricht nicht der Wahrheit. Die internationale Gemeinschaft hat in diesen Krieg eingegriffen, aber in falscher Hinsicht und dies sollte nicht vergessen werden. Dieses geschah durch ein Waffenembargo, welches faktisch lediglich das Opfer beeinträchtigte. Anstatt uns durch eine Militärintervention zu helfen, uns zu bewaffnen, hat die Welt genau das Gegenteil getan: Sie hat die Bewaffnung des angegriffenen Landes verboten und nahm uns unser Recht auf Selbstverteidigung. Die Erklärung, die wiederholt dazu abgegeben wurde: ein Embargo sei notwendig, denn ohne ein Embargo würde der Krieg lang und blutig werden. Nun, nach drei Jahren, möchten wir Bosnier fragen: War der Krieg nicht lang und blutig genug? Konnte er länger andauern und blutiger werden? Wir haben jeden Grund zu behaupten, dass, wenn es kein Embargo gegeben hätte, dann wäre der Krieg nun vorüber und Bosnien und auch die Prinzipien internationalen Rechts wären verteidigt worden. Auf diese Weise haben wir nun beides: einen blutigen Krieg und einen nie dagewesenen Bruch aller Gesetze und moralischer Normen. Wenn es um diesen schrecklichen Krieg geht, dann sind da drei Aspekte, die hervorstechen und denen eine logische und rationale Erklärung fehlt: 1. Die Quantität des Bösen, dass über Bosnien gegossen wurde. 2. Die Gleichgültigkeit der Welt angesichts des Ausbruchs des Bösen und 3. das Wunder unseres Widerstands. Sie müssen zugeben, dass nichts davon erwartet wurde und dass sie bestürzt waren. Haben Sie denn wirklich erwartet, dass in der Mitte Europas und nach Auschwitz und den Gulags jemand derart schamlos sein konnte, Todeslager zu errichten, in denen Tausende verschwinden; um kaltblütig und planmäßig Moscheen, Kirchen, Büchereien und Krankenhäuser niederzureißen? Wenn Sie dies in ihrer dunkelsten Vorahnung hätten sehen können, hätten sie dann geglaubt, dass die zivilisierte Welt diesem Geschehen passiv zusehen und die Augen vor dem Genozid, einem aggressiven Krieg, Todeslagern, ethnischen Säuberungen und absoluter Gewalt schließen würde? Und zuletzt das dritte Wunder – dieses Mal positiv: unser Widerstand. Haben Sie 1991 oder 1992 vorhersehen können, dass die Bosnier mit bloßen Händen die gut bewaffnete jugoslawische (serbische) Armee hätten stoppen können? Im Mai 1992 hatte mich Lord Carrington in Sarajevo besucht – mit nur einer einzigen Botschaft: “Verhandeln Sie!” Als ich ihm sagte, dass sie unsere Kapitulation forderten und sie lediglich darüber verhandeln wollten, fragte er mich: “Nun, was werden Sie tun?” Ich sagte: “Wir werden kämpfen.” Carrington erwiderte niedergeschmettert: “Offensichtlich wissen Sie nicht, womit sie es zu tun haben. Es tut mir leid, aber Sie haben keine Chance.” Wie Sie wissen, haben wir uns dazu entschlossen, Widerstand zu leisten. Mit lediglich ein paar tausend leicht bewaffneten Kämpfern haben wir erfolgreich einen strategischen Teil Bosniens gehalten und waren in der Lage, eine Armee zu schaffen, die nun niemand ignorieren kann. Dieses sind die drei Wunder, die einer Erklärung bedürfen. Geschichte ist unvorhersehbar und Geschichten über unvorhersehbare Dinge finden statt. Bibliotheken voller Bücher werden geschrieben werden, um die drei oben genannten Phänomene zu erklären, aber keine wirkliche Erklärung wird gefunden werden. Das Böse in Bosnien wurde bereits als metaphysisch bezeichnet, was offensichtlich bedeutete, dass es unerklärlich war und sich außerhalb der bekannten Kategorien abgespielt haben musste. Ein Schriftsteller sagte, dass es kein Wort in der Sprache der zivilisierten Nationen gäbe, das hässlich genug sei, um einige Aspekte dieses Bösen zu benennen. Wenn es um das Verhalten der Welt geht, um diese ungewöhnliche Linie von Widersprüchen, dann kommt einem ein bizarrer Gedanke in den Sinn, dass da in der Seele der Menschen über die letzten zwei oder drei Generationen ein unerklärlicher Bruch stattgefunden haben muss. Unsere Väter schrieben diese erhabenen Überzeugungen auf, Deklarationen und Konventionen, die die Anwendung von Gewalt verboten, über die friedliche Koexistenz, über Menschenrechte. Wir haben diese Dokumente behandelt als seien sie wertloses Papier. Waren unsere Väter andere Menschen? Was ist mit uns in der Zwischenzeit geschehen? Eine besonders ernste Frage drängt sich auf und sie betrifft jede Nation und jedes Land der Welt von jetzt an: Wird der Bruch internationaler Gesetze in einem derart hohen Maße wie auf dem Balkan die Standards niederreißen, die durch die Zeitalter formuliert wurden? Wird die internationale Gemeinschaft neue Verhaltensregeln dulden, die Gewalt als ein Recht legalisieren? Ist sie vorbereitet darauf? Wenn es um unseren Widerstand geht, dann werden eines Tages alle Fakten bekannt sein, aber dies wird nicht das Phänomen enthüllen. Dies ist der Fall, weil der Widerstand eine starke moralische Komponente hatte, ein Fakt der spirituellen Ordnung und Fakten dieser Art entziehen sich der wissenschaftlichen Analyse. Sarajevo ist nicht das einzige, vielleicht aber das überzeugendste und bildlichste Beispiel dafür. Wir in Sarajevo leben und arbeiten praktisch seit drei Jahren an der Frontlinie. Manchmal kommt diese Linie bis zu 500 Meter an das Präsidiumsgebäude heran. Das Gebäude wurde in den letzten drei Jahren 120 Mal direkt unter Beschuss genommen, 57 Menschen starben in dem Gebäude und in dessen Umgebung. Sarajevo erlebte 1.000 Tage der Belagerung. In dieser Zeit trafen mindestens eine halbe Million Granaten die Stadt. Über 10.000 Menschen wurden getötet, darunter ungefähr 1.300 Kinder… Das ist die tragische Seite der Medaille. Die andere Seite ist die Folgende: die Universität hat nicht an einem einzigen Tag ihren Betrieb unterbrochen. Mehr als 1.500 Studenten erhielten ihre Abschlüsse während des Krieges und über 55 Dissertationen wurden angenommen. Zur gleichen Zeit wurden 250 Konzerte und 1000 Theatervorstellungen gegeben. Manchmal ist es vorgekommen, dass das Fernsehen über die Opfer, die an diesem Tag gefallen waren, berichtete und gleichzeitig ein Konzert ankündigte, dass am gleichen Abend stattfand. Intensives Leben folgte intensivem Sterben. Es ist wahr, dass diese Konzerte mehr als musikalische Veranstaltungen waren. Sie repräsentierten unsere Antwort auf das Böse und die Gewalt von den Hügeln, unsere menschliche Antwort auf die ungesehene Unmenschlichkeit. Immer noch wollen sie eine solche Stadt trennen und eine Mauer durch diese Stadt ziehen. Sie als Deutsche wissen am besten, was Mauern für eine Stadt bedeuten. Sie können besser als jeder andere verstehen, welcher Geisteszustand hinter einer solchen dunklen Idee stehen kann. All diejenigen, die Mauern zwischen Menschen bauen sind gleich. Als sie die Berliner Mauer bauten haben diese Stalinisten gesagt, sie verteidigen den Frieden. Heute wissen wir, dass der wahre Grund Panik war, die Furcht vor der Freiheit. Diejenigen, die Sarajevo teilen und diejenigen, die die Stadt niederreißen, erzählen uns das Gleiche und sie sind besessen von der gleichen Angst. Sie wollen das Symbol töten, dass ein Zeuge gegen sie ist. Sie wollen die Stadt töten, die all das verkörpert, was sie selbst nicht sind. Sarajevo ist eine Zeugin dafür, dass Menschen verschiedener Religionen, Nationen und Kulturen zusammenleben können. Es gibt nur eine Bedingung dafür: dass sie normale menschliche Wesen sind. Unmenschen können dies nicht tun. Im heutigen Bosnien, dem Teil, der unter Kontrolle der legalen bosnischen Regierung ist, sind 12 parlamentarische und außerparlamentarische Parteien aktiv. Manche von ihnen haben nicht viele Mitglieder, weil sie stärker in der Rhetorik als mit Taten sind und die Menschen können dies sehen, aber niemand hindert sie daran, ihre Aktivitäten fortzusetzen und neue Wähler zu gewinnen. Ich habe gestern mit Stolz und Genugtuung den Bericht des Sondergesandten für Menschenrechte, Tadeusz Mazowiecki, gelesen. Er berichtet, dass drei Fernsehstationen in Sarajevo aktiv sind, dazu acht Radiostationen, des Weiteren einige andere in anderen Teilen Bosniens. RTV BH ist der einzige Staatssender, alle anderen sind unabhängig oder unter dem Einfluss der Opposition. Kürzlich fand in Zagreb eine Ausstellung mit 175 Zeitungen und Magazinen statt, die während des Krieges in Bosnien und Herzegowina publiziert worden sind, meist durch eine unabhängige Presse. Es gibt keine Medienzensur in Bosnien und Herzegowina, nie wurde eine Publikation verboten, kein Journalist, keine Journalistin wurde wegen seiner oder ihrer Arbeit verfolgt. Auf der anderen Seite haben wir in der Linken und in der Rechten kleine Faschismen, die stolz auf ihre uninationale, unireligiöse und ihre Vorstellung einer Einheitspartei sind. Winde blasen von dort und sie versuchen diese kleine Flamme des Lichts, dass durch die freien Gebiete Bosnien und Herzegowinas scheint, auszulöschen. Sie wählen ein Argument, um dieses zu erreichen: islamischer Fundamentalismus. Sie behaupten, dass sie diejenigen seien, die Europa von der islamischen Gefahr schützen. Vielleicht ist dies eine gute Gelegenheit und der richtige Ort und die richtige Zeit, um Klarheit über den sogenannten islamischen Fundamentalismus in Bosnien zu verschaffen. Erstens: Lassen Sie nicht zu, dass diese Leute Sie verteidigen, selbst wenn es um islamischen Fundamentalismus geht. Hat sich Europa derart erniedrigt, dass es diejenigen braucht, die sakrale Objekte zerstörten, um diese vor etwas zu verteidigen? Es gibt Islam in Bosnien, aber es gibt dort keinen Fundamentalismus und wenn jemand mir nicht den Unterschied zwischen beidem benennen kann, dann ist dies das Problem der betreffenden Person. Nach 50 Jahren kommunistischer Unterdrückung erwacht Religion und dies ist ein natürlicher Prozess. Dieser Prozess ist ein Teil des nationalen Erwachens der Bosniaken und dieser Prozess wird sich fortsetzen. Der religiösen Renaissance in Bosnien wird kein Radikalismus und kein Extremismus folgen, weil sie frei und natürlich ist. Sie hat bereits eine positive Rolle in der Vermenschlichung unseres Kampfes für die Freiheit gespielt. Religion hat die Verschiedenheit zwischen dem Guten und dem Bösen betont und trotz allem haben wir nicht erlaubt, dass die Unterschiede zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen ausgelöscht werden. Alles drängte uns zu unkontrollierter Rache. Wir haben diesen Versuchungen widerstanden. Gott sei Dank! Diese irrige Annahme, Glauben für Fundamentalismus zu halten, ist immer noch existent, dank dem stillen Übereinkommen der Aggressoren und dem Westen. Die Interessen sind dieselben, die Gründe sind unterschiedlich. Das Interesse der serbischen Aggressoren ist es, mit der Nutzung der List vom islamischen Fundamentalismus, den Westen davon abzuhalten, Bosnien zu helfen. Das Interesse des Westens ist das Finden einer Entschuldigung für dessen Passivität, für sein Nichtstun. Der Westen lässt sich bereitwillig überzeugen, damit er von seiner Pflicht erleichtert wird. Ich nenne Ihnen nun zwei Beispiele: Als vor ein paar Monaten ein Fall in Sachen Schweinefleisch auf dem Markt in Sarajevo auftauchte (die Bewohner wollten die Geschäfte trennen), schrieb die westliche Presse für Tage darüber, als sei dies eine gefährliche Sache. Es wurden mehr Artikel über Schweinefleisch in Sarajevo als über die serbischen Todeslager, in denen tausende von Menschen verschwanden, publiziert. Das zweite Beispiel: Wenn man über den Krieg in Bosnien spricht, dann sagte ein hochrangiger westlicher Politiker, dass alle gleich schuldig seien, nur um es deutlich zu machen: Bosnier, Serben und Kroaten. Sein Kollege sprach über die sogenannten kriegsführenden Parteien und einen Bürgerkrieg in Bosnien. Der Grund ist so offensichtlich wie einfach: Wenn dies keine Aggression und kein Genozid war, dann war der Westen nicht verpflichtet zu reagieren und ein Waffenembargo wäre dann nicht nur legal, sondern auch notwendig. Wie können wir Bosniaken nicht darüber denken, dass dies eine ultimative Parteilichkeit und Vorurteilsdenken darstellt? Aber dann ereignet es sich, dass eine sehr informierte und respektierte amerikanische Institution berichtet, dass 90 % der Verbrechen in Bosnien von Serben begangen wurden. Also sind wir doch nicht gleich schuldig und Gott sei Dank ist dies so. Auf diese Weise ist wenigstens die Hoffnung gerettet worden. Und wenn wir ein Verbrechen begangen haben, dann werden wir uns nicht als unschuldig erachten, weil wir glauben, dass Prinzipien und Nummern nicht addiert und subtrahiert werden können. Es geht keinen Platz für eine Arithmetik in dieser Sache. Als vor ein paar Tagen zwei Kinder in einem Kreuzfeuer im serbischen Teil Sarajevos gestorben sind, war unsere Armee mutig genug, um die Verantwortung für den Soldaten zu übernehmen und das Verbrechen zu ahnden. Dasselbe wurde in wenigen anderen Situationen getan, weil drei Jahre eines grauenhaften Krieges wie dem in Bosnien bringen unvorhersehbare und schwierig zu kontrollierende Situationen mit sich. Dennoch sind wir manchmal diejenigen, denen die Schuld angelastet werden muss, weil wir die schwächere Seite waren. Manchmal scheint es, als dürften die Schwachen nicht das Recht haben, Fehler zu begehen. Sie müssen perfekt sein. Die Starken müssen dies nicht. Diese Einstellung, entwickelt von den Mächtigen, akzeptieren wir nicht und wir werden weiterhin an die unbesiegbare und unerklärliche Macht des Gesetzes und der Menschlichkeit über die Gewalt glauben. Um zu enden – erlauben Sie mir diese Rede mit einigen persönlich gefärbten Beobachtungen zu schließen: Ich bin in meiner offiziellen Funktion zu Ihnen gekommen, aber auch – und warum es nicht sagen – als Muslim aus Bosnien. Ich persönlich fühle mich als Muslim und als Europäer und ich glaube nicht, dass eines das andere ausschließt. Ich akzeptiere nicht, dass es Verschiedenheiten zwischen Menschen und Kulturen gibt, die nicht überwunden werden können. Wenn jede Kultur zuballerst eine Gruppe von Werten ist, welche in der Schlussbetrachtung moralische Werte sind, an die geglaubt wird, dann können wir über eine mögliche Einigkeit der Kulturen sprechen. Vor langer Zeit, als ein junger Mann, habe ich einen Artikel über Kants kategorischen Imperativ geschrieben. Die These des Artikels war, dass das moralische Prinzip, dass von Kant formuliert und unter dem zuvor genannten Titel bekannt wurde, in sehr alten Lehren in nahezu wörtlicher Form gefunden werden kann: angefangen bei jüdischen weisen Männern und Konfuzius im alten China bis hin zu Tolstoi und Martin Buber in unserem Jahrhundert. Dieses moralische Prinzip ist folglich raumlos und zeitlos bezogen auf die Geschichte. Für mich bedeutet das, dass es keinen Unterschied zwischen Kulturen gibt, der nicht überwunden werden könnte und dass alle Kulturen ähnlich oder gar gleichwertig sind, wenn man an ihre Wurzeln geht. Für mich ist diese Frage eine Sache der menschlichen Gleichberechtigung. Es gibt da einen spannenden Satz im Koran, der mit den Worten “Kommt und versammelt euch um das Wort, dass uns gemeinsam ist…” beginnt. Diese Einladung richtet sich an die Christen und Juden. So möchte ich Sie nun dazu einladen, die künstlichen Trennungen zwischen Islam und Christentum, zwischen Osten und Westen abzulegen. Sehen Sie sich diese Trennungen an und finden Sie heraus, ob nicht etwas Intoleranz durch diese Selbstsucht und Ungerechtigkeit des Westens verursacht wird. Außerdem sind viele Verschiedenheiten, die Sie sehen und fühlen können ohne Bedeutung, sie rühren von Unterschieden in der Stufe der kulturellen und sozialen Entwicklung her. Ich möchte meine Rede mit dem Wunsch an die Bundesrepublik Deutschland richten, den Platz in der Welt einzunehmen, der ihr gebührt als eine kulturelle, moralische und ökonomische Macht ersten Ranges. Deutschland hat keinen Grund zu zögern. Deutschland und die Welt kann davon nur profitieren. Vielen Dank. Zweite Rede: Teheran, Dezember 1997 Ich begreife es als ein Privileg, diese Gelegenheit wahrnehmen zu können, um bei diesem wichtigen Zusammentreffen muslimischer Länder zu sprechen. Ich bin gerade von einer Konferenz in Bonn zurückgekehrt, auf der die Situation meines Landes besprochen wurde und extrem wichtige Entscheidungen gefällt wurden. Aus Respekt vor Ihrer Zeit und der heutigen Agenda möchte ich in meiner Rede nur ein Thema behandeln: der Osten und der Westen und mein Bosnien zwischen diesen Welten. Der Gedanke dazu kam mir während meiner letzten Reisen, die nach wie vor andauern. Mit dem Ende dieser Woche habe ich Bosnien verlassen, um in Saudi-Arabien an einer Konferenz über Bildung teilzunehmen. Dann reiste ich nach Europa, um einer Konferenz über Bosnien teilzunehmen und heute bin ich hier in Teheran, auf einer islamischen Konferenz: Osten, Westen, Osten. Ich glaube, dass ich bewandert bin mit beiden Hälften der Welt und auf meinen Reisen habe ich einige neue Dinge erfahren, gute und schlechte. Ich erfuhr vom ermutigenden Fakt, dass es fünf Millionen Schulkinder und Studenten in Saudi-Arabien gibt, aber auch von dem Umstand, dass in einem anderen islamischen Land 68,5 Prozent Analphabetismus herrscht. Eine andere gute Nachricht ist, dass 20 Millionen Menschen im Iran eine Schulbildung genießen, aber die schlechte Nachricht ist, dass die Analphabetenrate unter Frauen in jedem islamischen Land inakzeptabel hoch ist. Frauen stellen die Hälfte der Menschheit. Eine ungebildete Frau kann nicht die Generation aufwachsen lassen, die unsere Völker in das 21. Jahrhundert führt. Vergeben Sie mir, wenn ich sie offen bin. Wohlschmeckende Lügen helfen nicht weiter, nur die bittere Wahrheit kann wirken. Der Westen ist weder korrupt, noch degeneriert. Das kommunistische System hat dafür bezahlt, als es sich selbst belog und davon ausging, dass der Westen verdorben sei. Er ist es nicht. Er ist stark, gebildet und besser organisiert. Seine Schulen sind besser als unsere und die Städte sind sauberer als die unsrigen. Menschenrechte haben im Westen einen höheren Stellenwert und die soziale Wohlfahrt für die Armen und weniger Starken ist besser organisiert. Die meisten Westler sind verantwortungsvoll und pünktlich. Das ist meine Erfahrung mit ihnen. Ich bin mir auch der dunklen Seite ihres Fortschritts bewusst und diese verliere ich nicht aus den Augen. Islam ist das Beste – das ist wahr: aber wir sind nicht die Besten. Dieses sind die beiden Dinge, die wir oft durcheinanderbringen. Anstatt den Westen zu hassen, lasst uns mit ihm konkurrieren. Mahnt uns nicht der Koran „Wetteifert im Guten“? Mit der Hilfe unseres Glaubens und unseres Lernens können wir die Stärke schaffen, die wir benötigen. Es ist wahr, dass dies ein harter und ermüdender Weg ist. Es ist schwer einen Berg zu erklimmen, den Berg, von dem im Koran die Rede ist, aber es gibt keinen anderen Weg. Lasst uns also überall Stiftungen für Bildung einrichten. Lasst keines unserer Kinder ohne Bildung. Reiche muslimische Länder sollten die schwächeren bei dieser Aufgabe unterstützen. Lasst es uns heute tun oder gleich eine Konferenz zu diesem Thema einberufen. Manche Menschen denken, dass wir den Vorteil durch Terrorismus erreichen. Dies ist ein Trugschluss und er hat gefährliche Ausmaße angenommen. Terrorismus ist die Reflektion unserer jetzigen Machtlosigkeit und der mögliche Grund für unsere künftige Ohnmacht. Er ist nicht nur unmoralisch, sondern auch kontraproduktiv. Er ist unmoralisch, weil er unschuldige Menschen tötet und er ist kontraproduktiv, weil er niemals etwas hat lösen können. Terrorismus wurde von jeder ernstzunehmenden politischen Bewegung in der Vergangenheit abgelehnt. Meiner Meinung nach verbietet der Koran Terrorismus explizit mit dem wohlbekannten Vers „Wer einen Menschen tötet, für den soll es sein, als habe er die ganze Menschheit getötet.“ Es ist traurig, dass es Menschen gibt, die dieses vergessen. Und nun einige Worte zu Bosnien, meinem Land. Ich habe über den Osten und den Westen gesprochen. Bosnien liegt auf der Grenze zwischen diesen beiden Welten, an der großen Grenze, wie wir gerne sagen. Jeder zehnte Bosniake ist während des letzten Krieges getötet worden. Lasst also nicht noch einmal Unrecht an Bosnien geschehen. Sagt jedem, dass für euch Bosnien ein heiliges Land ist, denn es ist getränkt mit dem Blut unschuldiger Menschen, eurer Glaubensgeschwister. Einige Schriften von Alija Izetbegović Islam Between East and West, American Trust Publications 1985 (auch ABC Publications, 1993; Islamic Book Trust 2013; eine deutsche Übersetzung aus dem Bosnischen von Rijad Dautović ist unter dem Titel „Islam zwischen Ost und West“ 2014 in Wien erschienen). Inescapable Questions: Autobiographical Notes, The Islamic Foundation, 2003. Izetbegović of Bosnia and Herzegovina: Notes from Prison, 1983-1988, Greenwood Press, 2001 The Islamic Declaration, 1991; eine Übertragung ins deutsche ist unter dem irreführenden Titel „Die islamische Ordnung“ 2003 in Berlin erschienen. Bosnia on the historical border: a lecture given at the Examination Schools, Oxford on 2 April 2001, Oxford Centre for Islamic Studies, 2001. Ausgewählt und verfasst von Daniel Roters, wissenschaflicher Mitarbeiter am Zentrum für Islamische Theologie, Universität Münster

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